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Persönliche Budgets als Chance nutzen

Kassel (kobinet) Seit über 25 Jahre engagiert sich Uwe Frevert mittlerweile in Sachen Peer Counseling und in der Beratung behinderter Menschen. Seit knapp 18 Monaten arbeitet er bei der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTB) in Kassel ansässigen Vereins Selbstbestimmt leben in Nordhessen (SliN). kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit ihm über die bisherigen Erfahrungen in der Beratung und vor allem auch über die Erfahrungen mit der Beratung zum Persönlichen Budget.

kobinet-nachrichten: Die ergänzende unabhängige Teilhabeberatungsstelle (EUTB) des Vereins Selbstbestimmt Leben in Nordhessen (SliN) bietet nunmehr seit fast 1 1/2 Jahren Beratung an. Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit dem vom Bund geförderten Angebot?

Uwe Frevert: Es ist wirklich ein feines Angebot, wenn wir als EUTB unabhängig von einem Dienstleistungserbringer und Kostenträger unsere Beratungsarbeit anbieten können. Hierfür sind wir dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sehr dankbar. Ich leiste nun seit mehr als 25 Jahren Beratungsangebote und mein Gehalt war leider immer abhängig von einer Querfinanzierung durch einen Dienstleistungserbringer. Der Kostendruck war doch enorm, wenn es darum ging, einer KundIn mit dem Persönlichen Budget die eigenständige Organisation der Persönlichen Assistenz zu ermöglichen. Letztendlich war meine Arbeit für den Leistungserbringer doch geschäftsschädigend.

kobinet-nachrichten: Was sind für Sie Highlights in der Beratung? Wo konnten Sie etwas für die ratsuchenden behinderten Menschen erreichen?

Uwe Frevert: In meiner Arbeit ging es immer darum, den behinderten Menschen oder ihren Angehörigen mehr Entscheidungsbefugnisse geben zu können. Es geht immer um Fachwissen über die Hilfe für Behinderte, also wer, was, wann zu leisten, zu finnazieren und wer darüber zu entscheiden hat. Der Klassiker ist die Persönliche Assistenz, welche im Rahmen des Persönlichen Budgets organisiert wird. Es ist die Reinstform der Selbstbestimmung über das Angebot für behinderte Menschen. Wenn behinderte Hilfeempfänger*innen von einem Pflegedienst sich abnabeln und zu einer behinderten Arbeitgeber*in von persönlichen Assistent*innen werden, dann ist das für mich immer so ein Highlight in der Beratung.

Dabei geht's natürlich auch um Geld. Für einen Pflegedienst ist das nicht unerheblich. Er hat ja bis zur Abnabelung der behinderten Person 8 bis 10 Kräfte für die Leistung beschäftigt. Wenn die behinderte Person nun kündigt, stellt sich natürlich die Frage, wie werden diese Kräfte weiter bezahlt. Wir versuchen in aller Regel, dass das Personal von der behinderten Arbeitbeber'in übernommen werden kann. Nicht immer ist das aber möglich, wenn das Arbeitsklima in der Vergangenheit negativ belastet war, also als zerüttet bezeichnet werden kann.

kobinet-nachrichten: Wie mühsam ist das zuweilen, solche intensiveren Prozesse mit den Beratungskund*innen durchzustehen?

Uwe Frevert:
Um ein Persönliches Budget in dieser Größenordnung zu realisieren, ist eine langfristige und viel Vorarbeit zu leisten. Da gilt zuerst einmal der behinderten Person deutlich zu machen, dass sie damit für sich selbst die Verantwortung übernehmen muss, mit allen rechtlichen Konsequenzen. Mit dem Persönlichen Budget ist nicht länger der Pflegedienst für die Dienstplanbesetzung verantwortlich, sondern der/die behinderte Arbeitgeber*in selbst. In Anbetracht eines Arbeitsvertrages der unterschrieben werden soll, bedarf es dann einer Bedenkzeit, um sich der neuen Situation in der Verantwortung bewusst werden zu können. Dabei ist unsere Peer Beratung enorm hilfreich, weil wir selbst diese Ängste bei der Verantwortungsübernahme kennen.

Ein anderes Problem ergibt sich immer wieder bei der Verhandlung mit dem Kostenträger über die Höhe des Persönlichen Budgets. Während einem Pflegedienst von einem Kostenträger nicht vorgeschrieben wird, wie viele Kräfte den Mindestlohn erhalten sollen oder wie viele Fachpflegekräfte eingesetzt werden dürfen, versuchen fast alle Kostenträger bei den behinderten Budgetnehmer*innen zusätzlich Leistungen zu sparen. Da wird plötzlich verlangt, dass nur der Mindestlohn ausbezahlt werden soll, da es im Privathaushalt keine Zulassungskriterien für Fachpflegekräfte gibt. Wir erklären dann dem Kostenträger immer wieder, dass das Persönliche Budget keine eigene Leistung ist, sondern nur eine alternative Form der Leistungserbringung. Es liegt daher in der Verantwortung der leistungserbringenden behinderten Person, welches Personal mit welcher Vergütung beschäftigt werden soll. Dabei ist trotzdem in aller Regel davon auszugehen, dass am Ende des Budgetjahres der Kostenträger eine Rückerstattung aus dem Persönlichen Budget zurück erhält, weil die selbst organisierte persönliche Assistenz in der Praxis kostengünstiger ist.

Wir stellen bei so einem Konflikt den Kostenträger immer vor das Ultimatum: Entweder er akzeptiert uneingeschränkt unsere Kostenkalkulation mit der zugehörigen Zielvereinbarung oder der Kostenträger muss weiterhin den kostenintensiveren Pflegedienst bezahlen. Und natürlich entscheidet der Kostenträger dann zu Gunsten unserer Beratungskunden.

kobinet-nachrichten: Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf gerade auch beim Persönlichen Budget, um die Teilhabe behinderter Menschen zu erleichtern?

Uwe Frevert: Zum Thema Persönliches Budget erhält der Verein Selbstbestimmt leben in Nordhessen (SliN) viele Anfragen von anderen EUTB-Stellen, von gesetzlichen Betreuer*innen, von Pflegestützpunkten, aber auch von Kostenträgern. Wir merken dann immer wieder, wie komplex und durchdrungen die Anforderung ist. Da gibt es Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Arbeitsrecht und der Sozialversicherungspflicht, ganz zu schweigen von der zuständigen Leistungspflicht bei einem trägerübergreifenden Persönlichen Budget. Ich glaube, dass wir wieder Schulungen durchführen müssen, wie im Jahr 2004 bis 2008 bei Einführung des Persönlichen Budgets.

Verbesserungsbedarf sehe ich aber auch bei Angeboten für Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen. Hier bedarf es einer dauerhaften pädagogischen Begleitung im Sinne des "Betreuten Wohnens" zur eigenständigen Führung solcher Persönlichen Budget. Das Angebot der EUTB in Berlin vom Verein akse – aktiv und selbstbestimmt - scheint mir dabei ein gutes Beispiel zu sein, weil es hier eine pauschale Förderung von den Bezirksämtern gibt.

kobinet-nachrichten: Derzeit wird ja die Verlängerung der Förderung der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung über das Jahr 2022 hinaus von der Politik diskutiert. Welche drei guten Gründe, die EUTB weiterzufördern könnten Sie den Abgeordneten des Deutschen Bundestages an die Hand geben?

Uwe Frevert: Erstens: Es geht um den Grundsatz ambulant vor stationär. Im stationären Bereich haben wir ein Rund-um-Angebot, was alle Lebensbereiche der behinderten Menschen betrifft und finanziert werden muss. Im ambulanten Bereich können wir langfristig Synergieeffekte für Nichtbehinderte mit benutzen. Es bedarf keiner Parallelgesellschaft nur für behinderte Menschen. Aber, der ambulante Bereich ist heute leider immer noch nicht ausreichend auf die Bedarfe behinderter Menschen eingerichtet. Im ambulanten Bereich gibt es diese Rund-um-Angebote nicht, weil all die Jahre das Geld vor allem in stationäre Angebote der Eingliederungshilfe, wie Heime und Werkstätten für behinderte Menschen geflossen ist.

Zweitens: Der private Bereich hat bei der Nutzung von Synergieeffekten ein enormes Potential. Bei der selbst organisierten Persönlichen Assistenz mit dem Persönlichen Budget wird ein enormes Potential mobilisiert. Dieses basiert auf zwischenmenschlichen Interaktionen im Umfeld der behinderten Leistungsberechtigten und der Eigenständigkeit im Privathaushalt, wie es sonst vom Pflegedienst geleistet werden muss. Ich bin mir sicher, dass dies ein Instrument ist, um den Pflegenotstand mildern zu können.

Drittens: Wie ich oben dargelegt habe, ist für Kostenträger das Leben mit Behinderung im ambulanten Beriech sehr komplex. Nach wie vor erhalten wir Anfragen von Ratsuchenden, weil ein Kostenträger sagt: "Hierfür sind wir nicht zuständig, da müssen sie sich an die Krankenkasse wenden.“ Die Kostenträger denken in ihren alten Strukturen und können dann die Leistungsberechtigten nur so bedienen. Der Verweis auf einen anderen Kostenträger beweist dabei all zu oft nur das mangelnde Wissen über die Zuständigkeit des anderen Kostenträgers. Damit bleiben aber die Vorteile mit dem Persönlichen Budget auf der Strecke. Hier kann die EUTB gute Hilfe leisten.

kobinet-nachrichten: Was sind die nächsten Dinge, die bei Ihren Beratungen in Kassel anstehen?

Uwe Frevert: Ich möchte gerne mehr Budgets für Arbeit sehen. Aber, der hier zu leistende Beistand für die Berechtigten ist sehr hoch. Und auch die finanziellen Hürden sind hier zu hoch, so dass es sich für die potentiellen Arbeitgeber der behinderten Menschen nicht lohnt, diese zu beschäftigen, die eigentlich einen Platz in einer Werkstatt für behinderte Menschen haben.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.

Kontakt:
EUTB des Vereins Selbstbestimmt leben in Nordhessen (SliN), Samuel-Beckett-Anlage 6, 34119 Kassel, Tel. 0561 / 72885-362, E-Mail: Uwe.Frevert@slin-ev.de - Internet: http://www.slin-ev.de/


kobinet-nachrichten vom 22.07.2019

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